22. Mai 2019 (aktualisiert am 12. Mai 2021) Erstellt von Jennifer Schmitz Arbeitsleben
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden: Alle Länder der EU müssen ihre Arbeitgeber zur vollständigen Erfassung der Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter verpflichten. Diesem Urteil war eine Klage der spanischen Gewerkschaft CCOO gegen die Deutsche Bank in Spanien vorausgegangen. Die Forderung: Nicht nur Überstunden sollen erfasst werden, sondern die gesamte Arbeitszeit. Der Nationale Gerichtshof in Spanien brachte die Klage vor den EuGH, welcher dieser mit der Argumentation stattgab, dass sich nur so überprüfen lasse, wie viel Arbeitszeit der Arbeitnehmer geleistet hat.
Die Richter/innen empfinden das Urteil als Stärkung der Rechte für Arbeitnehmer. Aufgrund der schwächeren Position in der Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung müsse die Arbeitszeit objektiv ermittelt werden können, damit Arbeitnehmer ihre Rechte durchsetzen und eine Verletzung ihrer Rechte zweifelsfrei dokumentieren können.
In Deutschland gibt es bisher noch keine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Lediglich Überstunden müssen laut Paragraf 16 Arbeitszeitgesetz dokumentiert werden. Ausgenommen sind einige Branchen, wie die Fleischwirtschaft, das Baugewerbe, das Reinigungsgewerbe und das Gaststättengewerbe. Hier gilt Paragraf 17 des Mindestlohngesetzes in Verbindung mit Paragraf 2a des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes, welche die Arbeitgeber der entsprechenden Branchen zur Aufzeichnung der Arbeitszeit verpflichten.
Einige Tarifverträge beinhalten außerdem eine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung. Natürlich gibt es auch Unternehmen, die dies freiwillig tun. Unabhängig davon gilt in Deutschland: Pro Woche dürfen Arbeitnehmer 48 Stunden arbeiten. Täglich ist eine Pause von 11 Stunden am Stück einzuhalten. Zudem muss einmal wöchentlich eine Pause von 24 Stunden eingehalten werden.
Durch das EuGH-Urteil müssen sich nun alle deutschen Unternehmen um ein Zeiterfassungssystem kümmern. Das Urteil macht zur Art der Umsetzung jedoch keine Vorgaben. So kann die klassische Stechuhr ebenso genutzt werden, wie Zeiterfassungs-Apps oder Excel-Tabellen. Sogar die selbstständige Erfassung durch den Mitarbeiter soll möglich sein. Wie genau das Thema Arbeitszeiterfassung in Deutschland jedoch rechtlich realisiert werden soll, steht noch nicht fest.
Naturgemäß führt ein solches Urteil zu unterschiedlichen Auffassungen. Während die Gewerkschaften die Entscheidung begrüßen, hält sich die Freude der Arbeitgeber, gelinde gesagt, in Grenzen.
Insbesondere aus der Digitalbranche gibt es Kritik, auch von Arbeitnehmern. Viele Unternehmen werben für Fachkräfte mit flexiblen Arbeitszeitmodellen, wie z.B. Home Office. Sie argumentieren, dass diese Modelle nur mit Vertrauensarbeitszeit funktionieren. Die Arbeitszeiterfassung gilt für diese in der modernen Arbeitswelt als rückwärtsgewandt und archaisch.
Natürlich gibt es gute Argumente für die Arbeitszeiterfassung, die auch in der modernen Arbeitswelt möglich ist. Bento hat mit der Soziologin Sabine Pfeiffer gesprochen, die zahlreiche Gründe anführt, aus denen die Erfassung der Arbeitszeit Vorteile mit sich bringt.
Insbesondere junge Leute, so Pfeiffer, wünschen sich die Möglichkeit zur flexiblen Einteilung der Arbeitszeit für eine gute Work-Life-Balance. Doch gerade durch diese Flexibilisierung würden die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit verschwimmen. Die ständige Erreichbarkeit durch Diensthandy und Co. führte dazu, dass auch nach der Arbeit die Gedanken um den Job kreisten und das Abschalten schwierig werde. So entstehe eine große psychische Belastung.
Durch die Erfassung der Arbeitszeit, argumentiert Pfeiffer, werde transparent aufgeführt, wann und wie lange gearbeitet wurde. Möchte man an einem Tag etwas früher Feierabend machen, da man am Tag zuvor länger gearbeitet hat, so hilft die Arbeitszeiterfassung bei der Rechtfertigung.
Bei der Frage, ob die Überwachung der Arbeitszeit nicht zu Stress führe, erklärt Frau Pfeiffer, dass diese eher als Entlastung angesehen werden kann. Die wenigsten Arbeitnehmer lassen um Punkt 6 ihren Stift fallen und fahren nach Hause, viele bleiben noch, etwa aus Gründen der Kollegialität oder weil sie einfach engagiert sind. Wird die Arbeitszeit erfasst, so entsteht daraus das Signal, dass man sich auch einmal eine Auszeit gönnen kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Solange nicht jede Minute eines Gesprächs mit dem Kollegen oder jede Sekunde, die man sich mal nicht einhundertprozentig auf die Arbeit konzentriert, aufgezeichnet wird, sollte, ihrer Meinung nach, kein Gefühl der Überwachung entstehen.
Insbesondere in der Digital- und Kreativbranche sieht Sabine Pfeiffer die Vorteile der Arbeitszeiterfassung. Immerhin braucht es, so ihre Argumentation, genügend Auszeiten, um die Kreativität am Leben zu halten. Besonders in der Digitalbranche und in Agenturen diagnostiziert sie eine Häufung (zu) langer Arbeitszeit. So sagt sie, dass viele Arbeitnehmer aus diesen Branchen einen neuen Job suchten, wenn sie die Familienplanung anstrebten, da sie wüssten, dass Familie und Beruf nicht vereinbar seien.
Doch insbesondere aus der Digitalbranche, in der Sabine Pfeiffer die Arbeitszeiterfassung als besonders vorteilhaft ansieht, gibt es viel Kritik. Florian Nöll vom Magazin „t3n“ findet in seiner Kolumne zum Thema klare Argumente gegen die Arbeitszeiterfassung. Seine Kernthese „Aus New Work wird somit Dienst nach Vorschrift“.
Nach Nölls Argumentation schert das EuGh mit seinem Urteil alle Arbeitnehmer aller Branchen über einen Kamm, egal, wie der Arbeitsalltag derer aussähe. Seiner Meinung nach seien eben nicht alle Arbeitnehmer gleich: Insbesondere Digitalnomaden, die ständig unterwegs sind und immer an verschiedenen Orten arbeiten sowie Eltern, die besonders früh anfingen, damit sie nachmittags Zeit für Ihre Kinder hätten und Programmierer, die möglicherweise erst richtig warmliefen, wenn sich das Büro abends leerte, würden durch die Arbeitszeiterfassung in ihrer Arbeitsweise behindert.
Für Florian Nöll ist die Vertrauensarbeitszeit die Basis für Freiheit. Er sagt, immer mehr Arbeitsnehmer profitierten von der Freiheit, flexibel dann und dort zu arbeiten, wo sie am produktivsten sind. Die Arbeitszeiterfassung mache diese Vorteile zunichte.
Wir haben es in den vergangenen Jahren bereits öfter gehört: Die gearbeitete Stundenzahl trifft keine Aussage über die Produktivität. Laut Nöll interessiert die Leistung und nicht, wie viele Stunden der Arbeitnehmer geleistet hat. Arbeitnehmer und Arbeitgeber streben nach seinem Verständnis nach einem gemeinsamen Ziel und ziehen zur Erreichung am selben Strang. Das EuGH-Urteil drängte Arbeitnehmer und Arbeitgeber hingegen wieder in die klassischen Rollenbilder, sodass es nicht mehr auf das Ergebnis der Arbeit ankomme, sondern auf die abgesessene Zeit und werde demnach, so Nöll, zur Fußfessel für den Arbeitnehmer.
Neben der klassischen Stechuhr gibt es natürlich noch weitere Technologien, die eine moderne und zeitgemäße Arbeitszeiterfassung möglich machen. Insbesondere Zeiterfassungs-Apps passen wohl am besten in diese Zeit. Seit 2015 bietet das Bundesarbeitsministerium die App „einfach erfasst“ an. Diese steht kostenlos zum Download bereit und ermittelt die Arbeitszeit, indem der Mitarbeiter einen Start/Stop-Knopf betätigt. Die entsprechend aufgezeichneten Daten werden unverschlüsselt per E-Mail an den Arbeitgeber geschickt, sodass dieser die Zeitkonten pflegen kann.
Die Firma clickbits hat die App „clockodo“ entwickelt. Der Mitarbeiter startet hier eine Stoppuhr, die im Hintergrund läuft und die Daten direkt in das System überspielt. Die geleistete Arbeitszeit ist direkt auf den Arbeitszeitkonten des Mitarbeiters verfügbar und bleib so stets aktuell. Nach eigener Aussage nutzen bereits 3.000 Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen clockodo – mit dem EuGH-Urteil stieg die Nachfrage nach der App in die Höhe.
Mit einer App können auch Mitarbeiter, die nicht ständig vor Ort im Büro sind, ihre Arbeitszeit tracken und übertragen, sodass die Arbeitszeiterfassung mit diesem Tool wohl nicht unbedingt einen Rückschritt für die moderne Arbeitswelt bedeuten muss.
Wie Florian Nöll in der t3n treffend formuliert hat: Nicht alle Arbeitnehmer sind gleich. Und hier beginnen die Probleme bei der Umsetzung der Arbeitszeiterfassung: Wann ist Arbeit Arbeit? Wenn ich in meiner Freizeit Fachartikel zu meinem Job lese, ist das Arbeitszeit? Wenn ich Kontakte aus meinem beruflichen Netzwerk pflege, gilt dies als Arbeitszeit? Muss ich meine Zeiterfassungsapp starten, wenn ich unter der Dusche die entscheidende Idee zur Lösung eines Problems auf der Arbeit habe? In einer Zeit, in der wir mehr und mehr danach streben, dass unser Job uns erfüllt, hören wir nicht nach Feierabend auf, uns damit zu beschäftigen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund schlägt zur Lösung dieses Problems eine Definition vor: So soll alles, was die Person zur Befriedigung des betrieblichen Interesses des Arbeitgebers macht, als Arbeit gelten und erfasst werden. Das Problem: Wenn sich das betriebliche Interesse des Arbeitgebers mit dem eigenen Interesse überschneidet (wie es der Fall ist, wenn man einen hohen Identifikationsgrad mit seiner Arbeit hat), greift diese Definition nicht mehr.
Wie wir gesehen haben, gibt es verschiedene Reaktionen auf das EuGH-Urteil. Einige Jubeln, andere kritisieren. Es gibt auf beiden Seiten gute Argumente. Die Arbeitszeiterfassung kann dazu beitragen, Ausbeutung zu vermeiden und eine gesunde Work-Life-Balance zu erhalten. Sie kann aber auch dazu führen, dass die Flexibilität, die uns die neue Arbeitswelt gebracht hat, zunichte gemacht wird und so der Work-Life-Balance schaden.
Insbesondere in der Digitalbranche, die von jungen Fachkräften mit einem hohen Identifikationsgrad zu ihrem Job geprägt ist, verschwimmt der Begriff „Arbeit“. Doch ohne klare Definition des Begriffs fehlt auch Klarheit darüber, wann die Zeiterfassung aktiviert werden muss. Die Frage stellt sich, ob es überhaupt möglich ist, den Begriff „Arbeit“ über alle Branchen und Positionen hinweg zu definieren.
Nun ist die Politik am Zug ein Gesetz zu entwerfen, dass dem EuGH-Urteil entspricht aber nicht die Errungenschaften der modernen Arbeitswelt zunichte macht. Wie die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung am Ende umzusetzen sein wird, bleibt abzuwarten.